Art der Veröffentlichung: Rezension einer gerichtlichen Entscheidung (Fassung unten = vollständiges Manuskript der später gekürzten Veröffentlichung)

Ort der Veröffentlichung: Neues Polizei Archiv (NPA), Heft 3/2003 Nr. 383

Verwaltungsrichtlinien und Ausnahmefall vom Regelfahrverbot

S a c h v e r h a l t:

Ein Autofahrer überschritt im September 2001 mit seinem PKW innerhalb einer geschlossenen Ortschaft die zulässige Höchstgeschwindigkeit vom 50 km/h um 32 km/h. Er wurde während dieses Verstoßes im Rahmen der polizeilichen Verkehrsüberwachung mit der gefahrenen Geschwindigkeit seines Fahrzeuges gemessen. Im daraufhin ergehenden Bußgeldbescheid wurde neben einer Geldbuße auch ein Regelfahrverbot festgesetzt. Der Betroffene erhob gegen diesen Bescheid Einspruch und trug darin vor, dass die Geschwindigkeitsmessung zirka 50 bis 60 m vor der in Fahrtrichtung ortsauswärts stehenden Ortstafel erfolgte. Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen im März 2002 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaft zu einer Geldbuße von 100 € und verhängte gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat.

Das Amtsgericht war bei seinem Urteil von einem Regelfall ausgegangen und hat im Hinblick auf die Höhe der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung als Regelfolge der Verkehrsordnungswidrigkeit ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Nicht berücksichtigt wurde dabei der Vortrag des Betroffenen, die Messung sei lediglich 50 – 60 m vor der Ortstafel erfolgt.

Gegen dieses Urteil erhob der Betroffene Rechtsbeschwerde zum Bayrischen Obersten Landesgericht. Er beschränkte sein Rechtsmittel jedoch auf den Rechtsfolgenausspruch und erkannte den Schuldspruch an.

Der erste Senat des BayObLG hob den Rechtsfolgenausspruch des Amtsgerichts auf und verwies die Sache zur Neufestsetzung an das Amtsgericht zurück.

OWiG § 79 Abs. 1

StPO § 267 Abs. 3

Erfolgt die Geschwindigkeitsmessung unmittelbar (hier: 50 – 60 m) vor der das Ende der Innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit markierende Ortstafel (Zeichen 311), so ist dies ein besonderer Tatumstand, der die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigen kann (vgl. BayObLGSt 1995, 148). Will der Tatrichter dennoch ein Regelfahrverbot verhängen, muss er in den Urteilsgründen darlegen, welche Umstände ein

Unterschreiten des Mindestabstands von ca. 200m rechtfertigen oder warum trotz nicht Einhaltens der Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung die Verhängung eines Fahrverbots gerechtfertigt ist.

BayObLG (Beschl. v. 27.06.2002 .- 1ObOWi 221/02 – Verlags-Archiv Nr. 383)

A u s d e n G r ü n d e n:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen in seinem Rechtsfolgenausspruch zu einem Regelfahrverbot verurteilt. Die sich aus dem Urteil ergebende nahe liegende Möglichkeit eines besonderen Tatumstandes, nämlich eine den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung widersprechende Messung 50 – 60 m vor der Ortstafel, hat der Tatrichter nicht geprüft und erörtert, sondern ist davon ausgegangen, dass es darauf nicht ankomme.

Die Ortstafel (Zeichen 311) markiert das Ende der innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h, falls abweichende Verkehrsregelungen fehlen. Nach den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung des bayrischen Staatsministeriums des Innern solle die Messstellen beim Einsatz von Geschwindigkeitsmessgeräten so angelegt sein, dass sie vom Ende einer Geschwindigkeitsbeschränkung mindestens 200 m entfernt sind, falls nicht bestimmte Besonderheiten (Nr. 3.1. bis 3.4. der Anlage 1) vorliegen.

Die Richtlinien sind zwar innerdienstliche Vorschriften; sie sichern jedoch auch die Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer in vergleichbaren Kontrollsituationen, indem sie für alle mit der Verkehrsüberwachung betrauten Beamten verbindlich sind (BayObLGSt 1995, 148/149; OLG Oldenburg NZV 1994, 286).

Die im Urteil enthaltene Feststellung, die Messstelle habe sich "50 – 60 m vor dem Ortsschild" befunden, hätte den Tatrichter veranlassen müssen, zu prüfen und im Urteil darzulegen, ob die Messstelle entsprechend den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung angelegt worden war. Wird nämlich ein Geschwindigkeitsmessgerät entgegen den Richtlinien relativ kurz nach oder – wie im vorliegenden Fall – kurz vor der Ortstafel eingesetzt, so ist dies in der Regel ein besonderer Tatumstand, der die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigen kann, auch wenn die Messung selbst in ihrem Ergebnis korrekt war (BayObLGSt 1995, 148).

Da dem angefochtenen Urteil nicht entnommen werden kann, ob die Geschwindigkeitsmessung entsprechend den Richtlinien für die polizeiliche Verkehrsüberwachung erfolgte, ist der Rechtsfolgenausspruch aufzuheben. Der nicht angefochtene Schuldspruch kann mit den dazugehörigen Feststellungen bestehen bleiben. Der Tatrichter hat die Rechtsfolgen auf der Grundlage dieser Feststellungen, die lediglich durch Feststellungen dazu zu ergänzen sind, ob die Messstelle entsprechend den Richtlinien eingerichtet war, neu festzusetzen (vgl. BGHSt 30, 340).

A n m e r k u n g:

Die vorstehende Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts berührt die polizeiliche Arbeit im doppelten Sinne. Auf der einen Seite behandelt die Entscheidung die Rechtsmaterie der polizeilichen Verwaltungsvorschriften für die Verkehrsüberwachung. Auf der anderen Seite berührt die Entscheidung die polizeilichen Protokollpflichten, die im Rahmen ihrer Verkehrsüberwachung notwendig wahrzunehmen sind.

Vollkommen zu Recht betont das Gericht in seiner Entscheidung die herausgehobene Bedeutung der Verwaltungsvorschriften für die Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer. Hier geht es tatsächlich um den Artikel 3 des Grundgesetzes, der die Polizei als Exekutivbehörde dazu verpflichtet, gegenüber den Bürgern gleiche Sachverhalte auch gleich zu behandeln. Dazu gehört es, im Rahmen der stets öffentlichkeitswirksamen polizeilichen Verkehrsüberwachung für den Bürger berechenbar und transparent zu bleiben, um die erwünschten Präventiveffekte dieser polizeilichen Verkehrssicherheitsarbeit nicht durch einen Verdacht willkürlichen polizeilichen Handelns überlagern zu lassen.

Mit anderen Worten, der Bürger hat ein Recht darauf, dass die Polizei sein Verhalten im Straßenverkehr in berechenbarer Weise kontrolliert. Dadurch kann er sich in seinem Fahrverhalten auf polizeilichen Kontrollen einstellen und somit aus Gründen der Verkehrssicherheit oder aus Gründen drohender Kontrollen (Generalprävention) für sich eine an die Verkehrsregeln angepasste Fahrweise wählen. Würde die Polizei nicht an Richtlinien für die Verkehrsüberwachung gebunden sein, sähe sie sich stets dem Vorwurf willkürlichen Behördenhandelns ausgesetzt. Existieren also diese internen Richtlinien für polizeiliches Handeln, so ist es nicht nur recht und billig, dass diese von den Polizeibeamten auch beachtet werden, sondern deren nach öffentlichem Dienstrecht einzuhaltende Dienstpflicht.

Werden diese Richtlinien dennoch – aus welchen Gründen auch immer – nicht beachtet, so liegt in diesem abweichenden Behördenhandeln gleichzeitig auch eine Ausnahme vom polizeilichen Handeln in der Verkehrsüberwachung. Kann ein derartiger Ausnahmefall von einem Betroffenen nachgewiesen werden (im Regelfall eine schwierige hohe Hürde), so ist es selbst bei einer hohen Geschwindigkeitsüberschreitung möglich, dass gegen den Betroffenen vom Bußgeldrichter kein Regelfahrverbot festgesetzt wird. Diese Abweichung von der Rechtsfolgenfestsetzung geschieht dann allein aus dem verfassungsrechtlich und rechtsstaatlich motivierten Grund, um eine Gleichbehandlung zwischen den verschiedenen kontrollierten Fahrzeugführern zu gewährleisten. In diesem Punkt ist dem BayObLG in vollem Umfang beizupflichten.

Offen bleibt jedoch, inwieweit diese Rechtssprechung im Endeffekt dazu führt, dass bestehende Geschwindigkeitsbegrenzungen aus § 3 Abs. 3 StVO von den Autofahrern, die zum Teil aus beruflichen Gründen damit häufiger in Konflikt geraten, nicht in dem Maße beachtet werden, wie dies im Sinne der Verkehrssicherheit zu wünschen wäre. Tatsächlich ist nämlich in der Rechtssprechung der Zug erkennbar, das bestehende Regelfahrverbot immer mehr aufzuweichen und im Sinne der Einspruch einlegenden Betroffenen durch erhöhte Geldbußen zu ersetzen.

Selbstverständlich müssen die Geschwindigkeitsbegrenzungen an jeder Stelle innerhalb einer geschlossenen Ortschaft eingehalten werden. Es darf innerhalb der Ortschaften weder Ausrollzonen noch Beschleunigungszonen geben, die geduldete Abweichungen von der zulässigen Geschwindigkeit zulassen. In dieser Hinsicht sollte es eher keine Rolle spielen, wo die gefahrene Geschwindigkeit von der Polizei oder der kommunalen Verkehrsüberwachung gemessen wird.

De facto schaffen die örtlichen Festlegungen von Geschwindigkeitsmessstellen in den entsprechenden Richtlinien aber tatsächlich Räume vor bzw. hinter geschwindigkeitsregelnden Zeichen, innerhalb derer eine Messung der gefahrenen Geschwindigkeiten nur unter besonderen Bedingungen möglich ist. Damit grenzt sich die polizeiliche und auch kommunale Geschwindigkeitsüberwachung über Verwaltungsvorschriften ohne Not auf eine Weise ein, die der Verkehrssicherheit insgesamt abträglich ist. Keine Frage, so lange diese Regelungen bestehen, haben sich die Überwachungsbehörden auch daran zu halten. Es sollte jedoch überdacht werden, ob nicht auf diese Entfernungsangaben in Verwaltungsrichtlinien für die Verkehrsüberwachung grundsätzlich verzichtet werden sollte. Dies um so mehr, als durch derartige Regelungen offensichtlich mehr Hürden aufgebaut werden, als es für eine konsequente Verkehrssicherheitsarbeit nützlich wäre.

Prof. Dr. Dieter Müller, Bautzen

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