Anmerkung zu einer Gerichtsentscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bautzen

Prof. Dr. Dieter Müller, Fachhochschule für Polizei Sachsen, Rothenburg/Oberlausitz

 

Veröffentlicht in der juristischen Fachzeitschrift: "Neue Justiz" (Nomos Verlag, Baden-Baden, Berlin) Heft 10/2002, S. 553 f.

 

Fahrerlaubnis/medizinisch-psychologisches Gutachten/Eignung/Cannabiskonsum

Sächs. OVG Bautzen, Beschluss vom 8. November 2001- 3 BS 136/01 (VG Dresden)

(rechtskräftig)

FEV §§ 11 Abs. 8, 14 Abs. 1 und 2, 46 Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 5

Aus § 14 Abs. 2 FEV folgt nicht, dass zur Klärung der Fragen, ob zum einen ein Betroffener Cannabis einnimmt und des Weiteren Eignungszweifel begründende Tatsachen vorliegen, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden kann.

Problemstellung:

Der Antragsteller wurde von der Stadt Dresden (Antragsgegnerin) bereits im Jahr 1998 im Rahmen eines angeordneten Drogenscreenings dazu aufgefordert, im Zeitraum von 8 Monaten drei Urinuntersuchungen vornehmen zu lassen. Als Ergebnis konnte bei den beiden letzten Untersuchungen allgemein Drogenkonsum nachgewiesen werden, ohne allerdings eine Aussage über die Art der genossenen Drogen treffen zukönnen. Auf der Grundlage dieses Ergebnisses wurde der Antragsteller Ende 1998 dazu aufgefordert, ein Facharztgutachten einzureichen, um abklären zu können, ob es erforderlich sei, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen. Der Antragsteller widersprach dieser Anordnung, woraufhin die Antragsgegnerin erneut anordnete, ein fachärztliches Gutachten beizubringen. Diese zweite Anordnung erfolgte allerdings erst Ende 1999, also ein Jahr nach der ersten Anordnung. Der Antragsteller unterzog sich daraufhin der fachärztlichen Untersuchung und gab dabei an, seit drei Jahren drogenabstinent zu sein. Im Laborbefund ergaben sich dann auch tatsächlich keinerlei Hinweise auf eine Betäubungsmitteleinnahme mehr. Jedoch sah der Arzt im Rahmen seines im Mai 2000 erstatteten Gutachtens "persönlichkeitsabhängige Störungen" beim Antragsteller. Auf dieser Grundlage sah sich die Antragsgegnerin veranlasst, noch in demselben Monat diesem gegenüber anzuordnen, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen.

Dem Antragsteller gegenüber, der sich weigerte, dieser Anordnung nachzukommen, wurde von der Stadt Dresden auf der Grundlage dieser Weigerung gem. § 11 Abs. 8 FeV auf dessen Nichteignung geschlossen. Ferner wurden ihm unter Anordnung der sofortigen Vollziehung seine Fahrerlaubnis entzogen sowie das Gebot auferlegt, seinen Führerschein bei der Antragsgegnerin abzugeben.

Gegen diese Entscheidungen erhob der Antragsteller Widerspruch und beantragte beim VG Dresden die Wiederherstellung und Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Das VG Dresden lehnte dieses Ansinnen im Juli 2000 mit Beschluss ab. Auf die zugelassene und zulässige Beschwerde des Antragstellers änderte das OVG Bautzen den Beschluss des VG Dresden ab und stellte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her und ordnete diese an.

Die in beiden Instanzen behandelten Rechtsfragen widmen sich der auf verschiedene Weise möglichen Auslegung der Vorschriften der FeV. Es geht um den Problemkreis der behördlichen Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV bei erwiesenermaßen vorliegender Nichteignung.

Auf der unstreitigen entsprechenden Anwendungsmöglichkeit der §§ 11 bis 14 FeV (gem. § 46 Abs. 3 FeV) ergibt sich ein erster Streitpunkt in der Interpretation der Auslegungsregelung des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV, die unter bestimmten Voraussetzungen einen behördlichen Schluss auf eine Nichteignung zulässt.

Eine weitere Streitfrage ergibt sich aus der Auslegung der Vorschrift des § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV mit der möglichen Anwendbarkeit dieses Anordnungsgrundes für die Frage, ob jemand Cannabis einnimmt und Eignungszweifel begründende Tatsachen vorliegen.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Nach Auffassung des OVG Bautzen hätte die Vorinstanz dem Antrag des Rechtssuchenden "angesichts des tiefgreifenden Grundrechtseingriffs, der mit der Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verbunden ist" entsprechen müssen, da sein Aussetzungsinteresse gegenüber dem öffentlichen Vollziehungsinteresse überwog. Es sprächen nämlich gewichtige Argumente dafür, dass die Voraussetzungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV nicht vorlägen.

Diese Rechtsauffassung wird eingangs der näheren Ausführungen des Senates damit begründet, dass die Aufforderung der Stadt Dresden, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen rechtswidrig gewesen sei, weil deren Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten. Die Voraussetzungen für die rechtmäßige Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens seien gem. § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV nämlich Eignungszweifel, die kumulativ auf einer gelegentliche Einnahme von Cannabis und weiteren Tatsachen beruhen (Anm. des Bearbeiters: Richtigerweise müsste es allerdings hier wie auch in der nachfolgenden Begründung jeweils "Satz 4" heißen, vgl. dazu die allerdings sprachlich sehr umständlich formulierte Vorschrift. Satz 3 bezieht sich tatsächlich nur auf ärztliche Gutachten). Nur auf der Grundlage einer solchermaßen rechtmäßigen Aufforderung, ein Gutachten zu erbringen, sei aber bei tatsächlich nicht beigebrachtem Gutachten ein Schluss auf die Nichteignung gem. § 11 Abs. 8 FeV rechtmäßig.

Eine Anordnung wegen eines einmaligen Konsums sei nach § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV ebenso wenig möglich wie bei Fehlen sonstiger Eignungszweifel, wenn denn zumindest ein gelegentlicher Konsum von Cannabis vorläge.

Auch aus § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV, einem weiteren Anordnungsgrund für ein medizinisch-psychologisches Gutachten, könne nicht abgeleitet werden, dass "zur Klärung der Fragen, ob ein Betroffener Cannabis einnimmt und Eignungszweifel begründende Tatsachen vorliegen, die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden kann." (Leitsatz der Entscheidung) Vielmehr sei diese Vorschrift als legitimer Anordnungsgrund für ein medizinisch-psychologisches Gutachten nur dann heranzuziehen, wenn eine Abhängigkeit oder eine weiterhin erfolgende Einnahme von Cannabis aufgeklärt werden soll. Eine entgegengesetzte Auslegung würde dabei im Widerspruch zur Vorschrift des § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV stehen.

In jedem Fall müsste darüber hinaus rein faktisch zum Zeitpunkt der Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf der Rechtsgrundlage von § 14 Abs. 1 Satz 3 eine "gelegentliche Einnahme dieses Betäubungsmittels" tatsächlich vorliegen. Diese Tatsache habe im zu entscheidenden Fall jedoch nicht vorgelegen.

Gerade dann, wenn ein Betroffener zwar früher Betäubungsmittel eingenommen habe, zurzeit der Anordnung aber kein Konsum vorläge, greife die Vorschrift des § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV nicht. Darüber hinaus haben auch keine weiteren Eignungszweifel begründende Tatsachen vorgelegen und jedenfalls sei die ärztliche Erkenntnis über eine Andeutung "persönlichkeitsabhängiger Störungen" keine Tatsache dieser Art.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei daher nicht von einer Nichteignung des Antragstellers im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV auszugehen.

 

Kommentar:

Der Sache nach geht es in der Entscheidung um die Rechtmäßigkeitskontrolle verschiedener verwaltungsrechtlicher Ermittlungsmöglichkeiten eines Gefahrenverdachts auf Nichteignung wegen Betäubungsmittelkonsums. Das OVG Bautzen beteiligt sich mit dieser wichtigen Entscheidung an der Rechtsfortbildung in der Auslegung zentraler Tatbestandsmerkmale des Fahreignungsrechts.

An der absoluten Zunahme verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen gerade auf dem Gebiet des Fahreignungsrechts ist die grundsätzliche Problematik erkennbar, dass von behördlicher Seite oft eine extensive Interpretation der Eingriffsregelungen aus der FeV vertreten wird, die nicht selten erst von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung korrigiert werden kann. So lag auch der vom OVG Bautzen zu entscheidende Fall.

Vollkommen zu Recht spricht sich das OVG für eine enge Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Anordnungsgrundes aus § 14 Abs. 1 Satz 4 FeV sowie auf der gleichen stringenten Argumentationslinie für eine restriktive Interpretation des Anordnungsgrundes aus § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV aus. Der klar argumentierende Senat macht in seiner Entscheidung unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, NZV 1993, 413 ff.) konsequent deutlich, dass es bei behördlichen Anordnungen zum Beibringen von ärztlichen und medizinisch-psychologischen Gutachten um Grundrechtseingriffe geht, die betroffene Bürger somit stark belasten können. Um so genauer muss in diesen Fällen die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen für diese Eingriffe vorgenommen werden. Diese im besten Sinne des Zweckes der Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat notwendig enge Auslegung wird zwischenzeitlich gewichtig gestützt durch die beiden neuen Entscheidungen des BVerfG (Beschl. v. 20.6.2002, NJW 2002, 2378 ff.) und BVerwG (Urt. v. 5.7.2001, NJW 2002, 78 ff.).

Rechtsanwender in Fahreignungsbehörden, aber auch Rechtsanwälte werden sich zukünftig noch intensiver mit den verschiedenen Voraussetzungen für die Anordnung des Beibringens von ärztlichen und medizinisch-psychologischen Gutachten befassen müssen.

Des weiteren dürfen aber auch die Inhalte dieser zuweilen recht nebulös formulierten Gutachten, was die Entscheidung des OVG Bautzen wünschenswert detailliert deutlich macht, nicht einseitig zu Lasten von Betroffenen - wie in Dresden geschehen - überinterpretiert werden. Es obliegt dabei in erster Linie den Fahrerlaubnisbehörden mögliche Zweifel über die Auslegung einzelner Formulierungen und Schlussfolgerungen ärztlicher und medizinisch-psychologischer Gutachten innerhalb des Verwaltungsverfahrens aufzuklären. Rechtsanwälte sollten ihrerseits darauf bestehen, bei Mehrdeutigkeit ärztlich-psychologischer Aussagen mögliche Auslegungszweifel im Sinne ihrer Mandanten bereits im Vorfeld behördlicher Entscheidungen klären zu lassen. Schließlich hat ihr Mandant die Gutachten teuer bezahlt und besitzt damit, bei allem Verständnis für die Notwendigkeit medizinischer und psychologischer Fachbegrifflichkeit, ein Recht auf eine allgemein verständliche Formulierung in den ihn höchstpersönlich betreffenden Gutachten. In jeder Hinsicht kontraproduktiv wäre es für alle Seiten beteiligter Rechtsanwender, wenn es erst die mehrdeutigen und unklaren Formulierungen in den Gutachten sind, die Anlässe zum Entstehen von Eignungszweifeln bieten.

Literaturhinweis:

Schneider, Rolf, Drogen im Straßenverkehr, Referat auf dem 40. Verkehrsgerichtstag, Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft e. V. (Hrsg.), Veröffentlichung der auf dem 40. Deutschen Verkehrsgerichtstag gehaltenen Referate, Hamburg 2002, S. 122 ff.

Müller, Dieter, Drogen im Straßenverkehr, in: Verkehrsdienst 2002, S. 147 ff.

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