Art der Veröffentlichung: Rezension einer gerichtlichen Entscheidung (Fassung unten = vollständiges Manuskript der später gekürzten Veröffentlichung)

Ort der Veröffentlichung: Neues Polizei Archiv (NPA), Heft 12/2001 Nr. 980

 

Der unbestimmte Rechtsbegriff "während der Beförderung" im Gefahrgutrecht

S a c h v e r h a l t:

Ein Gefahrgutfahrer beförderte am 31.1.2000 mit seinem Tanklastzug tiefgekühlten Stickstoff. Um 11.30 Uhr steuerte er auf der BAB A 3 einen Parkplatz an, öffnete die jeweiligen Hähne am Lkw und Anhänger und ließ durch Druckausgleich mittels eines Schlauches durch diese Verbindungsleitung den tiefgekühlten Stickstoff aus dem Anhänger in den Druckbehälter auf dem Lkw fließen; dies deshalb, weil der Fahrer noch einen Kunden anzufahren hatte, bei dem er aufgrund beengter räumlicher Verhältnisse mit dem Anhänger nicht zur dortigen Füllanlage fahren konnte.

Durch das Umfüllen entstand aufgrund des tiefgekühlten Stickstoffes bei dem Schlauch eine riesige weiße Wolke, die den Lkw und den Anhänger umgab.

Das Amtsgericht verurteilte den Fahrer am 30.11.2000 wegen eines fahrlässigen Verstoßes bei der Durchführung der Beförderung gefährlicher Güter zu einer Geldbuße von 200 DM und sprach ihn von dem weiteren Vorwurf, gegen die Druckbehälterverordnung verstoßen zu haben, frei.

Der Fahrer erhob gegen dieses Urteil Rechtsbeschwerde zum Bayerischen Obersten Landesgericht und begründete diese mit einer Verletzung materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hatte Erfolg.

GGBefG § 10 Abs. 1 Nr. 1

GGVS § 9 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. a, § 10 Nr. 8 Buchst. B Anlage B zur GGVS Rn. 211178

Das Umfüllen von tiefgekühltem Stickstoff vom Tankanhänger in den Tank der Zugmaschine auf Parkplätzen verstößt gegen das Gebot der Rn. 211178 der Anlage B zur GGVS, wonach die Verbindungsleitungen zwischen untereinander unabhängigen Tanks einer Beförderungseinheit während der Beförderung leer sein müssen.

Bayerisches Oberstes Landesgericht (Beschl. V. 26.4.2001 – 3 ObOWi 30/2001 – Verlags- Archiv-Nr. 980)

A u s d e n G r ü n d e n:

Die durch Beschluss vom 17.4.2001 zugelassene Rechtsbeschwerde des Betroffenen führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz.

Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist allerdings die Auffassung des Amtsgerichts, dass der Betroffene durch das Umfüllen des tiefgekühlten Stickstoffs auf dem Autobahnparkplatz den Tatbestand des § 10 Abs. 1 Nr. 1 GGBefG i.V.m. § 10 Nr. 8 Buchst. d, § 9 Abs. 4 Nr. 4 Buchst. a GGVS i.V.m. Rn. 211178 der Anlage B zur GGVS i.d.F. der 14. ADR- Änderungsverordnung vom 29.9.1998 (BGBl II S. 2618) erfüllt hat. Nach dieser Randnote müssen Verbindungsleitungen zwischen untereinander unabhängigen Tanks einer Beförderungseinheit während der Beförderung leer sein. Erörterungsbedürftig ist insoweit nur das Merkmal "während der Beförderung". Da die aufgrund des Gefahrgutbeförderungsgesetzes erlassene Gefahrgutverordnung Straße (GGVS i.d.F. der Bek. vom 22.12.1998 (BGBl I S. 3993), zuletzt geändert durch GGBefÄndV vom 23.6.1999 (BGBl I S. 1435/1436) in § 1 Abs. 3 Nr. 1 die Geltung u. A. Der genannten Anlage B anordnet, gilt für deren Auslegung auch die Begriffsbestimmung des zugrunde liegenden Gesetzes, nämlich § 2 Abs. 2 GGBefG (i.d.F. der Bek. Vom 29.9.1998, BGBl I S. 3114 ff.).

Diese Vorschrift legt den Begriff der Beförderung in konzentrischen Kreisen fest: Um den Kern der Ortsveränderung schließen sich der Bereich der zeitweiligen Aufenthalte im Verlauf der Beförderung und um diesen die sogenannten Vorbereitungs- bzw. Abschlusshandlungen.

In diesem Rahmen muss sich auch die Auslegung des Begriffs Beförderung in Rn. 211178 bewegen, solange sich hieraus nicht begriffslogische Widersprüche ergeben. Dies trifft allerdings – wie von der Verteidigung zutreffend dargelegt – bei zwei Fallgestaltungen zu, nämlich im Fall des Umschlags (zeitweiliger Aufenthalt für den Wechsel des Beförderungsmittels) und im Fall des Entladens (Abschlusshandlung). Beide Fälle sind nämlich in § 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GGBefG aufgeführt. Müssten aber beim Umschlagen oder Entladen die Verbindungsleitungen gemäß Rn. 211178 leer bleiben, wäre ein Entladen der Behältnisse nicht möglich. Da aber die Rn. 211178 das Vorhandensein von Verbindungsleitungen zwischen untereinander unabhängigen Tanks und damit deren grundsätzliche Zulässigkeit voraussetzt, greift die allgemeine Definitionsbestimmung des § 2 Abs. 2 GGBefG insoweit nicht ein, tritt also hinter der spezielleren Bestimmung zurück. Für alle anderen Anwendungsbereiche bleibt es aber dabei, dass die Beförderung im Sinne von § 2 Abs. 2 GGBefG sich nicht auf den Vorgang der Ortsveränderung beschränkt.

Nur diese Auslegung (insbesondere auch für das Umfüllen während eines Aufenthalts im Verlauf der Beförderung) steht in Übereinstimmung mit dem Grundgedanken des Gefahrgutbeförderungsgesetzes, nämlich der Minimierung der Beförderungen durch Gefahrguttransporte. Damit wird der Fahrzeugführer (§ 9 Abs. 4 GGVS) nicht unzumutbar belastet. Dem Problem ungünstiger Ortsverhältnisse beim Empfänger des Gefahrgutes kann er auch weiterhin durch Abkoppeln des Tankanhängers begegnen. Hat er bei einem früheren Empfänger einen Teil des Tanks der Zugmaschine entleert, so muss er im Rahmen dieser Entladung das Nachfüllen des Tanks der Zugmaschine aus dem Anhängertank bewerkstelligen. Bei zulässiger Entladung ist nämlich der Gefahrenbereich gemäß § 4 Abs. 1 (i.V.m. Nr. 3 des Anhangs I), § 30 DruckbehV abgesichert, worauf der Tatrichter zutreffend hingewiesen hat.

Gleichwohl kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, da der Tatrichter von fahrlässiger Begehungsweise ausgegangen ist, während zutreffenderweise die Frage eines Verbotsirrtums und damit dessen Unvermeidbarkeit zu prüfen gewesen wäre. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts hat der Betroffene nämlich nicht über die tatsächlichen Gegebenheiten bei dem Umfüllvorgang geirrt (§ 11 Abs. 1 OWiG), sondern ist einem Subsumtionsirrtum hinsichtlich des Begriffs der Beförderung unterlegen (§ 11 Abs. 2 OWiG). Als Fahrzeugführer von Gefahrguttransporten hatte sich der Betroffene allerdings über die einschlägigen Vorschriften zu unterrichten und gegebenenfalls bei den zuständigen Stellen zu erkundigen. Unvermeidbar wäre der Verbotsirrtum dann, wenn er von der hierfür zuständigen Stelle einen von der Rechtsauffassung des Senats abweichende Auskunft erhalten hätte.

A n m e r k u n g:

Mit der Zunahme des Güterverkehrs auf deutschen Straßen geht eine parallele Zunahme der Anzahl von Gefahrguttransporten einher. Dadurch steigen nicht nur abstrakte Risiken für die Sicherheit des Straßenverkehrs, sondern auch die Anzahl konkreter Verstöße gegen Gefahrgutvorschriften. Einem derartigen Fall musste sich das Bayerische Oberste Landesgericht letztinstanzlich widmen und dabei eine Rechtsfrage klären, die bislang noch nicht hinreichend betrachtet worden ist.

Dabei ging es der Sache nach um die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "während der Beförderung" und der entscheidende Senat hatte diesen Begriff in seinem zeitlichen und räumlichen Umfang auszulegen. Das BayObLG wählte zwischen den beiden zur Auswahl stehenden Auslegungsvarianten eine extensive Interpretation des Begriffes und entschied sich damit, was in der Entscheidung auch ausdrücklich und zu Recht betont wird, für die Auslegung, die dem Grundgedanken der Gefahrenabwehr am besten gerecht wird.

Dass der Tenor der Entscheidung dem Betroffenen dennoch (vorerst) einen juristischen Sieg bescherte, vermag den Gewinn an Rechtssicherheit im Gefahrgutrecht, der von dieser Entscheidung fraglos ausgehen wird, nicht zu trüben. Es ist ein vorübergehender Sieg, der einem juristischen Fauxpas des Amtsrichters geschuldet ist. Dieser vermochte es nicht, vor seiner Verurteilung des Betroffenen die – zugegeben schwierige – Frage des möglichen Subsumtionsirrtums aus § 11 Abs. 2 OWiG zu erörtern, der bei Unvermeidbarkeit des Irrtums zu einem Mangel an Vorwerfbarkeit führen würde.

Aus polizeilicher Sicht gilt es zukünftig genauer zu berücksichtigen und zu ermitteln, aus welcher Motivation und aufgrund welcher Informationen von welchen Institutionen die Gefahrgutfahrer Verladungsvorgänge vornehmen. Dabei ist es nach wie vor unerlässlich, mögliche Schutzbehauptungen zu erkennen und über hartnäckige Nachfragen zu entkräften.

Genauere Ermittlungen, die notwendig einen höheren Zeitaufwand und Personaleinsatz erfordern, dürften gerade im Gefahrgutrecht zur Verhütung von potenziell größeren Gefahren stets verhältnismäßig sein.

Prof. Dr. Dieter Müller, Bautzen

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